OFDb - Inland Empire - Eine Frau in Schwierigkeiten (2006) (2024)

Zum Schluß unterhält uns David Lynch mit einer fulminanten Sängerin, begleitet von einem enthusiastischen Pianisten und temperamentvollen Tänzerinnen, während die Credits des Abspanns laufen. Es ist fast so, als wenn er uns Zuschauer wieder dem Leben zurückgeben will, indem er noch einen Moment der uns vertrauten Emotion zeigt, nachdem wir zuvor knapp drei Stunden lang in einem schwarzen Loch aus ständig wechselnden Eindrücken, vermischt mit an unseren Urängsten rüttelnden Geräuschen und Bildern verschwunden waren.

Seitdem Lynch mit "Lost Highway" die klassischen Erzählstrukturen verlassen hatte (nur noch einmal unterbrochen von "The Straight Story"), wurde es geradezu ein Hobby aller Filminteressierten, Interpretationen anzubieten und zu diskutieren, da sich Lynch selber jeder Aussage über seine Intentionen verschloss. "Inland Empire" ist in dieser Hinsicht sein bis jetzt konsequentestes Werk, da es sich jeder gewohnten Erzählform verweigert und auch mögliche Identifikationen mit den Protagonisten unterbindet, indem die von Laura Dern gespielte Hauptfigur eine Vielzahl von Charakteren durchschreitet.

Allein der Versuch ,den unzähligen Szenen und Kreationen, die "Inland Empire" bietet, eine Interpretation aufzwingen zu wollen, wird dem Werk nicht gerecht, da es einen vorurteilsfreien, möglichst unmittelbaren Blick vom Zuseher erfordert. Einzig Lynchs Aussage, daß Wilders "Sunset Boulevard" einer seiner Lieblingsfilme ist, läßt seine Grundgedanken erahnen. Ähnlich wie in Wilders Meisterwerk ist seine Kritik an Hollywood offensichtlich, zusätzlich noch gekennzeichnet dadurch, daß die einzige überhaupt als Handlung zu erkennende Storyline auf einem Filmset spielt.

Nikki Grace (Laura Dern) ,ein früherer Hollywood-Star, erfährt, daß sie endlich wieder eine Hauptrolle in einem Film erhält. Gemeinsam mit Co-Star Devon Berk (Justin Theroux) wird sie von Regisseur Kingsley Stewart (Jeremy Irons) auf dem Set begrüßt. Dabei wird es offensichtlich, daß Berk ein bekannter Womanizer ist, der selten eine seiner Partnerinnen verschmähte. Doch Nikki hat einen sehr eifersüchtigen Ehemann, so daß Berk ausdrücklich davor gewarnt wird, hier seinen üblichen Gepflogenheiten nachzugehen.

Schon kurze Zeit nach dem Beginn der Dreharbeiten tauchen merkwürdige Ungereimtheiten auf, besonders nachdem es sich herausstellte, daß es sich bei dem Film um ein Remake eines polnischen Films namens "47" handelt. Einem Film, der nie zu Ende geführt wurde, da die beiden Hauptdarsteller ermordet wurden. Und auch Nikki und Burk kommen sich deutlich näher, als es angeraten zu sein scheint...

Was sich hier nach einer nachvollziehbaren Story anhört ,beginnt erst nach einem eindrucksvollen Vorspiel. Eine Nadel kratzt auf einer Schallplatte und verschwindet in völliger Dunkelheit. Ein Mann und eine Frau laufen durch einen schlecht beleuchteten Hotelflur und betreten ein Zimmer - ihre Gesichter sind optisch unkenntlich gemacht. Sie zieht sich aus und bietet ihm an, mit ihm zu schlafen, drückt aber gleichzeitig ihre Angst vor ihm aus. Immer wieder blendet die Kamera in andere Räume über, die teilweise durch Türen verbunden sind. Daraus entsteht eine Szene mit drei Hasen - ganz offensichtlich zwei Frauen und ein Mann, die als riesige Hasen verkleidet sind - die eine merkwürdige unzusammenhängende Konversation bieten. Aus dem Off wird wie bei einer Theateraufführung Applaus und Gelächter eingeblendet, allerdings immer zu völlig unpassenden Zeitpunkten.

Diese surrealen Bilder münden in die erste real wirkende Szene, als eine Frau (Grace Zabriskie), die sich als Nachbarin vorstellt, Nikki in ihrem riesigen Haus besucht. Lynch drehte seinen Film in Hollywood und der polnischen Industriestadt Lodz und wechselt ständig zwischen den Standorten. Die Nachbarin tritt aus dem amerikanischen Straßenraum in die gealterte europäische Villa. Sie spricht in einem stark osteuropäischen Akzent zu der amerikanischen Schauspielerin, der selbst die harmlosesten Worte bedrohlich wirken läßt und der ihr - unterstützt von Lynchs unscharfen Bildern - den Eindruck einer Hexe verleiht. Mit ihren letzten Worten kündigt sie an, daß Nikki morgen ihre Rolle erhält und Lynch läßt die eigentliche Story beginnen.

Diesen Wechseleffekt zwischen Polen und Los Angeles benutzt Lynch ständig und rückt damit Hollywood in die Nähe der stark heruntergekommenen mit dem verbrauchten Charme der 60er gekennzeichneten polnischen Metropole. Doch gerade in diesen Bildern ist seine ambivalente Haltung gut zu erkennen. Denn Lynch inszeniert die Bilder in einer eigentümlichen Schönheit, die gerade in ihrem Niedergang zu erkennen ist. Ähnlich geschickt ist auch die Wahl Laura Derns als Hauptdarstellerin, da diese, wie die von ihr gespielte Rolle, nach langer Zeit wieder eine Hauptrolle erhielt (wie zuvor schon in zwei von Lynchs Filmen). Äußerst überzeugend spielt Dern die verschiedenen Charaktere und wird dabei bewußt als 40jährige ,deren Gesicht Lynch bis ins Detail aufzeigt, mit einer großen Anzahl junger und schöner Darstellerinnen konfrontiert.

"Inland Empire" löst sich in seiner dreistündigen Laufzeit mehrfach in verschiedene Bestandteile auf, zeigt Szenen, deren Zusammenhang wir nicht verstehen, kommt scheinbar zu früheren Ausgangspunkten zurück, um diesen Eindruck kurz danach wieder ad absurdum zu führen. Immer wieder führt uns Lynch in dunkle Gänge, deren Ziel wir nicht kennen und erzeugt dabei mehrfach Furcht und Gänsehaut, ohne daß es deutlich wird, worin der Horror lag. Seine Abkehr von typischen Filmstrukturen ist offensichtlich und wird bis ins Detail künstlerisch konsequent umgesetzt, unter teilweiser Verwendung einer von Lynch selbst komponierten Musik und den großartigen zeitgenössischen Werken des polnischen Komponisten Penderecki. So entsteht eine Filmsprache, die vom Zuschauer verlangt, eine ganz eigenständige Art des Kinos für sich zu entdecken und sich von üblichen Interpretationen zu verabschieden und nicht hinter jeder Szene nach einem Grund zu suchen.

Fazit : Eine Bewertung dieses Filmkunstwerks ist ebenso schwierig wie eine unumwundene Empfehlung, sich den Film anzusehen. Lynch entzieht sich üblicher Strukturen, so daß eine Kritik an der verwirrenden, sich nicht um Auflösung bemühenden "Story" ebensowenig gerecht ist wie an fehlenden Identifikationen, da Lynch hier keinerlei moralische Bewertungen anbietet.

Selbst die immanente Kritik an Hollywood und sein düsterer Blick darauf ist äußerst komplex und zeigt auch die gleichzeitige Liebe dazu - wie zum Kinofilm überhaupt. Zugutehalten muß man Lynch jederzeit, daß die Art wie er seinen Film umsetzt äußerst eigenständig und nicht im Geringsten anbiedernd ist.

"Inland Empire" sollte sich jeder Filminteressierte irgendwann einmal ansehen und er wird feststellen, daß es sich um einen Film handelt, der seinen Eindruck nach dem Ansehen zusehends verstärkt (10/10).

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Author: Arielle Torp

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